Neue experimentelle Methode misst den Higgs-Mode in Hochtemperatur-Supraleitern
Ein internationales Forschungsteam, zu dem Tomke Glier (Universität Hamburg), Stefan Kaiser (ehemals Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, Stuttgart, jetzt TU Dresden), Dirk Manske (Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, Stuttgart) und Michael Rübhausen (Universität Hamburg) gehören, hat eine bahnbrechende experimentelle Methode entwickelt, um den Higgs-Mode in Supraleitern direkt zu messen. Die beobachteten Higgs-Modes folgen den Vorhersagen, die der Wissenschaftler Dirk Manske und sein Team vor fünf Jahren gemacht haben.
In Supraleitern können sich Elektronen auf bemerkenswerte Weise paaren: Sie bewegen sich kollektiv in einem gemeinsamen Quantenzustand, in dem elektrischer Strom ohne jeglichen Widerstand fließt. Forschende können diesen Zustand selektiv mit ultraschnellen Laserpulsen anregen und so in Schwingung versetzen. Dieser Prozess führt zu den sogenannten Higgs-Modes – kollektiven Schwingungen des supraleitenden Zustands selbst.
Der Begriff „Higgs-Modes“ ist kein Zufall: Er erinnert an das berühmte Higgs-Boson aus der Teilchenphysik, da in beiden Fällen die Schwingung eines Feldes auftritt, die demselben physikalischen Prinzip des Symmetriebruchs unterliegt. In Supraleitern bietet der Higgs-Mode wertvolle Einblicke in die verborgenen Symmetrien und die innere Struktur dieses außergewöhnlichen Zustands. Man kann sich das Schwingungsspektrum der Higgs-Modes wie den Fingerabdruck eines Supraleiters vorstellen – eine Art charakteristisches Echo, das seine Eigenschaften offenbart.
Die neu entwickelte spektroskopische Methode ermöglicht es nun, Higgs-Modes direkt und selektiv zu beobachten. Dies ist ein bedeutender Fortschritt, da viele grundlegende Fragen zur Supraleitung, insbesondere zur Hochtemperatur-Supraleitung, die sogar bei relativ hohen Temperaturen bestehen bleibt, noch ungelöst sind.
„Terahertz-Laser haben in den letzten zehn Jahren bedeutende Fortschritte in der experimentellen Higgs-Spektroskopie ermöglicht [1]“, erklärt Stefan Kaiser, inzwischen Professor an der TU Dresden. „Was jedoch gefehlt hat, war ein präzises Werkzeug, um die Symmetrieeigenschaften dieser Anregungen zu untersuchen – und genau hier kommt die Raman-Spektroskopie ins Spiel.“
Zu diesem Zweck entwickelte das Team Non-Equilibrium Anti-Stokes Raman Scattering (NEARS). Die Methode beinhaltet die Einleitung eines kontrollierten „soft quench“ des sogenannten Mexican-hat-Potentials, was zur gezielten Anregung metastabiler Higgs-Zustände führt. „Diese Anregung bewirkt eine charakteristische population inversion, die sich im Spektrum als zusätzliches Anti-Stokes Raman-Signal zeigt“, erklärt Tomke Glier, Erstautorin der Studie. „Diese polarisationsabhängige Raman-Spektroskopie ermöglicht erstmals die experimentelle Bestimmung der Symmetrie von Higgs-Modes – ein entscheidender Schritt“, ergänzt Dirk Manske, der zusammen mit Theoretikern am MPI Stuttgart und dem Max Planck–UBC–UTokyo Center for Quantum Materials ein Klassifikationsschema für mögliche Higgs-Modes in Supraleitern entwickelt hat [2].
Mit der NEARS-Technik konnte das Team erstmals symmetrieabhängige Higgs-Modes in A1g- und B1g-Symmetrie bei etwa 25 meV in Bi₂Sr₂CaCu₂O₈₊ₓ (Bi-2212), einem Hochtemperatur-Supraleiter, nachweisen. Die Messungen wurden in Abhängigkeit von der Quench-Stärke durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Energie dieser Modi in Bi-2212 einer Cooper-Paar-Kohärenzlänge von weniger als 5 nm entspricht. Zusätzlich entwickelte das Team um Dirk Manske ein auf der BCS-Theorie basierendes Modell des elektronischen Raman-Scatterings und wendete eine vergleichende Ginzburg-Landau-Theorie an, um die experimentellen Ergebnisse zu untermauern.
Die NEARS-Messungen werden mit einem einzigartigen, neu entwickelten Raman-Spektrometer durchgeführt, das in Hamburg am Center for Free-Electron Laser Science (CFEL, Rübhausen-Gruppe) steht. Das in Hamburg entwickelte Spektrometer ermöglicht zeitaufgelöste Raman-Spektroskopie in Resonanz mit den relevanten Energieskalen der Festkörperphysik. „Dieser große spektrale Bereich in Kombination mit sehr hoher Energieauflösung bei niedrigen Anregungsenergien wird durch einen Aufbau erreicht, der über viele Jahre kontinuierlich verbessert wurde“, sagt Michael Rübhausen.
Wie sieht die zukünftige Entwicklung dieser neuen Technik aus? Auch hier antwortet Dirk Manske: „NEARS eröffnet einen systematischen Ansatz zur Analyse von Amplitudenmoden in einem breiten Spektrum von Quantenkondensaten – von Supraleitern mit konkurrierenden Ordnungen bis hin zu transient induzierten supraleitenden Zuständen oder Grenzflächensupraleitern. In Zukunft könnte das Vorhandensein des Higgs-Modes sogar als Kriterium für die Identifizierung von Supraleitung dienen und zur Charakterisierung der Kohärenzlängen und Ordnungsparametersymmetrien in neuen Supraleitern eingesetzt werden.“
Referenzen:
[1] M.-J. Kim, D. Manske, et al. Tracing the dynamics of superconducting order via transient terahertz third-harmonic generation. Sci. Adv.10, eadi7598 (2024). DOI:10.1126/sciadv.adi7598
[2] L- Schwarz, D. Manske et al. Classification and characterization of nonequilibrium Higgs modes in unconventional superconductors. Nature Communications 11, 287 (2020). https://doi.org/10.1038/s41467-019-13763-5













