Eisenarsenid-Supraleiter – ein Beispiel für die zentrale Rolle der Kristallzucht in der Festkörperforschung

Forschungsbericht (importiert) 2010 - Max-Planck-Institut für Festkörperforschung

Autoren
Keimer, Bernhard; Lin, Chengtian
Abteilungen
Abteilung Keimer, Wissenschaftliche Servicegruppe Kristallzucht
Max-Planck-Institut für Festkörperforschung, Stuttgart
Zusammenfassung
Die Herstellung hochwertiger Einkristalle ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für die Festkörperforschung, denn die Aussagekraft  experimenteller Ergebnisse hängt entscheidend von der Qualität der Proben ab. Hier soll dieser Zusammenhang am Beispiel der kürzlich entdeckten Eisenarsenid-Supraleiter verdeutlicht werden.

Einleitung

In fast allen Festkörpern sind die Atome auf einem regelmäßigen, hochsymmetrischen Kristallgitter angeordnet. In realen Festkörpern ist diese Regemäßigkeit allerdings nie perfekt, denn Defekte wie z. B. einzelne atomare Fehlstellen oder Versetzungen der Kristallebenen lassen sich nicht vollständig vermeiden. In der Tat beruht die Funktionalität vieler technischer Anwendungen von Festkörpern auf einer kontrollierten Anzahl von Defekten, die die physikalischen und chemischen Eigenschaften maßgeblich beeinflussen können. Ein quantitatives Verständnis realer Festkörper muss allerdings zwangsläufig von einem reinen, möglichst defektfreien Kristall ausgehen. Die theoretische Beschreibung eines solchen Systems wird durch die Symmetrie des Kristallgitters zwar ungemein vereinfacht, stellt aber für moderne, komplexe Materialien immer noch eine große Herausforderung dar. Doch erst wenn dessen Eigenschaften bekannt sind, lässt sich auch der Einfluss von Defekten im Rahmen von quantitativen Modellen beschreiben.

Daraus ergibt sich die Bedeutung der Kristallzucht für die Grundlagenforschung an Festkörpern. Die uns im täglichen Leben umgebenden Festkörper wie z. B. Metalle oder Gesteine sind sogenannte „Polykristalle“, die aus einer Vielzahl winziger, zufällig orientierter Kristallite aufgebaut sind. In den „Korngrenzen“ zwischen diesen typischerweise Mikrometer großen Kristalliten befinden sich viele Defekte, die nur schwer zu charakterisieren sind. Misst man also beispielsweise den elektrischen Widerstand, so kann man die Beiträge der Kristallite und der Korngrenzen nur dann quantitativ voneinander trennen, wenn man den Widerstand eines einzelnen, defektfreien Kristalls zuvor bestimmt hat. Überdies hängen viele Messgrößen wie z. B. die elektrische Leitfähigkeit in komplexen Materialien stark davon ab, entlang welcher Kristallachse gemessen wird. Ein Beispiel dafür sind die Eisenarsenid-Verbindungen in Abbildung 1, die aus FeAs-Schichten aufgebaut sind. Entlang dieser Schichten können Ströme sehr viel leichter fließen als senkrecht dazu. Aus Messungen an Polykristallen kann dieser für das mikroskopische Verständnis der Festkörpereigenschaften wesentliche Unterschied allerdings aufgrund der zufälligen Orientierung der Kristallite nicht ermittelt werden. Fortschritte in der Erforschung solcher komplexer Materialien hängen daher essentiell von der Verfügbarkeit von Einkristallen ab, in denen die Kristallebenen überall gleich orientiert sind.

Eisenarsenid-Supraleiter

Die Materialklasse der Eisenarsenide ist schon seit den 1970er-Jahren bekannt. Erst im Jahre 2008 wurde allerdings nachgewiesen, dass einige Mitglieder dieser Klasse schon bei einer bemerkenswert hohen Übergangstemperatur von Tc = 56 K (–217oC) supraleitend werden. Zu dieser Klasse gehört insbesondere die Verbindung BaFe2As2, in der Supraleitung durch Substitution von K für Ba bzw. Co oder Ni für Fe erzeugt werden kann (Abb. 1). Damit sind die Eisenarsenide nach den Rekordhaltern, den Kupferoxiden, die Verbindungen mit dem zweithöchsten supraleitenden Tc und werden daher, wie auch die Kuperoxide, häufig als Hoch-Tc-Supraleiter bezeichnet. Diese Entdeckung erregte weltweit große Aufmerksamkeit, denn gerade in Eisenverbindungen, die wie auch elementares Eisen zum Ferromagnetismus neigen, hätte wohl kaum jemand Hochtemperatur-Supraleitung vermutet. Viele Wissenschaftler sehen nun in der Untersuchung der Eisenarsenide eine Chance, weitere Anhaltspunkte für mikroskopische Modelle der Hochtemperatur-Supraleitung in den Kupferoxiden zu erhalten, deren Ursprung auch nach intensiver Forschung in den letzten zwei Jahrzehnten noch nicht endgültig geklärt ist. Da die Notwendigkeit einer aufwendigen Kühlung gegenwärtig der stärkste Hemmschuh für breite technische Anwendungen von Supraleitern ist, zeigt diese neue Form der Hochtemperatur-Supraleitung auch technologisches Potenzial.

Nach der Entdeckung der Supraleitung in den Eisenarseniden wurden viele Experimente an vergleichsweise einfach herzustellenden Polykristallen durchgeführt, doch stieß die Interpretation der Messergebnisse aus den oben angeführten Gründen schnell an ihre Grenzen [1]. Ein Durchbruch in der experimentellen Forschung gelang erst, nachdem weltweite Anstrengungen zur Synthese von einkristallinen Proben zum Erfolg führten.

Herstellung von Einkristallen

Für die Synthese von Einkristallen steht prinzipiell ein breites Spektrum an Methoden zur Verfügung. So lassen sich z. B. manche Kristalle durch Sublimation aus der Gasphase gewinnen, andere entstehen ähnlich wie Salzkristalle, wenn man einen Kristallisationskeim in eine geeignete Lösung einführt. Welches Verfahren für eine bestimmte Verbindung anwendbar ist, entscheidet sich anhand von deren chemischen Eigenschaften und Schmelz- oder Sublimationsverhalten. Da am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung (MPI-FKF) eine Vielzahl verschiedener chemischer Verbindungen untersucht wird, wurde dort schon vor geraumer Zeit eine zentrale Expertengruppe mit Laboratorien für alle gängigen Kristallisationsverfahren eingerichtet. Diese Expertise und Ausstattung ermöglichte eine schnelle und erfolgreiche Reaktion auf die besondere Herausforderung, die sich aus der Entdeckung der Supraleitung in den Eisenarseniden ergab [2].

Eine der Schwierigkeiten bei der Kristallzucht dieser Materialien liegt in deren hohem Schmelzpunkt, der für die in Abbildung 1 dargestellte Verbindung BaFe2As2 beispielsweise bei ca.1100oC liegt. Bei diesen Temperaturen zersetzt eine chemisch aggressive Eisenarsenid-Schmelze die meisten der Substanzen, aus denen Schmelztiegel gefertigt werden können. Durch Verwendung von Tiegeln aus der chemisch inerten, sehr temperaturstabilen Keramik ZrO2 konnte dieses Problem gelöst werden. Außerdem schmilzt BaFe2As2 „inkongruent“, d. h. beim Schmelzen entstehen andere, unerwünschte chemische Verbindungen. Hier verschaffte ein Lösungsmittel Abhilfe: Ähnlich wie Kochsalz in Wasser löst sich BaFe2As2 bei hohen Temperaturen in FeAs, und aus einer solchen FeAs-Lösung können Kristalle ohne unerwünschte Fremdphasen gezogen werden. Eine weitere Schwierigkeit liegt in den umfangreichen Sicherungsmaßnahmen, die erforderlich waren, um Kontamination der Laboratorien durch hochgiftige Arsendämpfe, die bei hohen Temperaturen entstehen können, zu vermeiden. Ein unter Aufsicht von Fachkräften für Arbeitssicherheit am MPI-FKF erarbeitetes Sicherheitskonzept sieht daher eine Versiegelung des Schmelztiegels unter Schutzgasatmosphäre in einer luftdichten Quarzampulle vor. Erst nach Abkühlung der Schmelze auf Temperaturen, bei denen keine gasförmigen Arsenverbindungen auftreten können, wird diese Ampulle geöffnet.

Ein für die Eisenarsenid-Kristallzucht eigens entwickelter Schmelzofen ist schematisch in Abbildung 2 dargestellt. Ein Al2O3-Stab, dessen Temperatur wenige Grade unterhalb der Temperatur der Schmelze gehalten wird, dient als Kristallisationskeim. Sobald durch langsames Abkühlen an dem Al2O3-Stab BaFe2As2-Einkristalle ausreichender Größe entstanden sind, kann die verbleibende, nicht mehr benötigte Lösung durch eine Kippvorrichtung abgegossen und in der Quarzampulle aufgefangen werden. In Abbildung 3(a) ist ein auf diese Weise entstandenes Agglomerat von Kristallen abgebildet, aus dem je nach Bedarf einzelne, perfekte Einkristalle abgespalten werden können (Abb. 3(b),(c)).

Physikalische Eigenschaften der Eisenarsenide

Diese hochwertigen Einkristalle gestatteten es Experimentalphysikern an MPI-FKF, teilweise in Zusammenarbeit mit externen Institutionen, innerhalb von kurzer Zeit eine Fülle von Informationen zu den mikroskopischen Eigenschaften der Eisenarsenide zu sammeln und diese zu einem stimmigen Gesamtbild zusammenzufügen. Zunächst wurden durch Photoemissions-Spektroskopie (d. h. Präzisionsmessungen des photoelektrischen Effekts) die Energieniveaus der Elektronen, die sogenannten „Bänder“, abgebildet [3, 4]. In Übereinstimmung mit theoretischen Vorhersagen ist diese Bandstruktur erheblich komplexer als die der Kupferoxid-Supraleiter, deren Leitungselektronen sich allesamt in demselben Band bewegen. Für die elektrische Leitfähigkeit von BaFe2As2 sind hingegen nicht weniger als fünf Bänder verantwortlich. Weiterführende Experimente mit einer Reihe komplementärer Methoden [4–6] wie z. B. Messungen der Wärmekapazität zeigten dann, dass Elektronen in diesen Bändern sich ganz unterschiedlich stark an der Supraleitung beteiligen. Eine solche sogenannte „Multiband-Supraleitung“ wurde zuvor nur in wenigen anderen Verbindungen nachgewiesen, darunter insbesondere in der binären Verbindung MgB2 mit einem für konventionelle Supraleiter ungewöhnlich hohen Tc = 39 K. Vorhergehende Forschungsarbeiten hatten erwiesen, dass die Supraleitung in MgB2 auf eine ungewöhnlich starke Wechselwirkung zwischen Leitungselektronen und Schwingungen des Kristallgitters zurückzuführen ist, welche auch für die Supraleitung in anderen bekannten Metallen wie z. B. Blei oder Aluminium bei noch tiefen Temperaturen verantwortlich ist. Dieser Mechanismus wurde schon vor mehr als 50 Jahren prinzipiell erklärt.

Experimente an Schwingungen des Eisenarsenid-Kristallgitters lieferten allerdings keinerlei Hinweise auf eine ungewöhnlich starke Wechselwirkung zwischen Elektronen und Gitterschwingungen [7], in Übereinstimmung mit theoretischen Vorhersagen für diese Materialklasse. Somit kann die herkömmliche Theorie den supraleitenden Zustand in den Eisenarseniden nicht erklären. Auf der Suche nach alternativen Erklärungen wandte sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaftlergemeinschaft schnell dem Magnetismus zu, denn der supraleitende Zustand befindet sich in dem in Abbildung 1 dargestellten Phasendiagramm in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer magnetisch geordneten Phase. In manchen Proben koexistieren sogar mikroskopische Domänen beider Phasen [8]. Anders als in der „ferromagnetischen“ Phase von elementarem Eisen sind in den magnetisch geordneten Eisenarseniden allerdings nicht sämtliche Magnetmomente der Eisenatome parallel zueinander angeordnet. Stattdessen richten sich die Fe-Magnetmomente nur entlang bestimmter Kristallachsen parallel aus; schaut man entlang einer anderen Kristallachse, so findet man eine alternierende, sogenannte „antiferromagnetische“ Ausrichtung (Abb. 4(a)). Die eingehende Erforschung dieser antiferromagnetischen Ordnung und deren Auswirkungen auf die physikalischen Eigenschaften erfordert wiederum einkristalline Proben, in denen die Kristallachsen überall gleich ausgerichtet sind.

Da eine ganz ähnliche Nachbarschaft von antiferromagnetischen und supraleitenden Phasen bereits von den Kupferoxiden beobachtet worden war, lag die Vermutung nahe, dass in beiden Materiaklassen magnetische Wechselwirkungen für die Supraleitung verantwortlich sind. Tatsächlich konnten Experimentalphysiker am MPI-FKF durch Messungen mit Neutronenstreuung nachweisen, dass scharf ausgeprägte magnetische Anregungen trotz der fehlenden magnetischen Ordnung auch in supraleitenden Eisenarseniden vorhanden sind [9, 10]. Die in denselben Experimenten festgestellten deutlichen Änderungen des magnetischen Anregungsspektrums im supraleitenden Zustand (Abb. 4(b)) sind ein unverkennbarer „Fingerabdruck“ eines magnetischen Mechanismus der Supraleitung. Ganz ähnliche Effekte wurden zuvor auch in Kupferoxid-Supraleitern beobachtet.

Blick in die Zukunft

Trotz der unterschiedlichen Kristallstruktur und der unterschiedlichen Anzahl und Form der Leitungsbänder in Eisenarseniden und Kupferoxiden liefern experimentelle Daten an Einkristallen beider Materialklassen eindeutige Hinweise auf einen einheitlichen, unkonventionellen Mechanismus der Hochtemperatur-Supraleitung. Diese Ergebnisse geben Anlass zu der Hoffnung, dass in wenigen Jahren ein vollständiges Verständnis dieses Phänomens erzielt werden kann, analog zur Standardtheorie der konventionellen Supraleitung. Ein solches mikroskopisches Verständnis wäre wegweisend für die Synthese neuer Hochtemperatur-Supraleiter.

1.
A. V. Boris, N. N. Kovaleva, S. S. A. Seo, J. S. Kim, P. Popovich, Y. Matiks, R. K. Kremer, B. Keimer:
Signatures of Electronic Correlations in Optical Properties of  LaFeAsO1-xFx.
Physical Review Letters 102, 027001 (2009).
2.
Y. Liu, D. L. Sun, J. T. Park, C. T. Lin:
Aliovalent ion-doped BFe2As2: Single crystal growth and superconductivity.
Physica C 470, S513-S515 (2010).
3.
V. B. Zabolotnyy, D. S. Inosov, D. V. Evtushinsky, A. Koitzsch, A. A. Kordyuk, G. L. Sun, J. T. Park, D. Haug, V. Hinkov, A. V. Boris, C. T. Lin, M. Knupfer, A. N. Yaresko, B. Büchner, A. Varykhalov, R. Follath, S. V. Borisenko:
(π,π) electronic order in iron arsenide superconductors.
Nature 457, 569-572 (2009).
4.
D. V. Evtushinsky, D. S. Inosov, V. B. Zabolotnyy, A. Koitzsch, M. Knupfer, B. Büchner, M. S. Viazovska, G. L. Sun, V. Hinkov, A. V. Boris, C. T. Lin, B. Keimer, A. Varykhalov, A. A. Kordyuk, S. V. Borisenko:
Momentum dependence of the superconducting gap in Ba1-xKxFe2As2.
Physical Review B 79, 054517 (2009).
5.
R. Khasanov, D. V. Evtushinsky, A. Amato, H.-H. Klauss, H. Luetkens, Ch. Niedermayer, B. Büchner, G. L. Sun, C. T. Lin, J. T. Park, D. S. Inosov, V. Hinkov:
Two-Gap Superconductivity in Ba1-xKxFe2As2: A Complementary Study of the Magnetic Penetration Depth by Muon-Spin Rotation and Angle-Resolved Photoemission.
Physical Review Letters 102, 187005 (2009).
6.
P. Popovich, A. V. Boris, O. V. Dolgov, A. A. Golubov, D. L. Sun, C. T. Lin, R. K. Kremer, B. Keimer:
Specific Heat Measurements of Ba0.68 K0.32Fe2As2 Single Crystals: Evidence for a Multiband Strong-Coupling Superconducting State.
Physical Review Letters 105, 027003 (2010).
7.
M. Rahlenbeck, G. L. Sun, D. L. Sun, C. T. Lin, B. Keimer, C. Ulrich:
Phonon anomalies in pure and underdoped R1-xKxFe2As2 (R = Ba, Sr) investigated by Raman light scattering.
Physical Review B 80, 064509 (2009).
8.
J. T. Park, D. S. Inosov, Ch. Niedermayer, G. L. Sun, D. Haug, N. B. Christensen, R. Dinnebier, A. V. Boris, A. J. Drew, L. Schulz, T. Shapoval, U. Wolff, V. Neu, Xiaoping Yang, C. T. Lin, B. Keimer, V. Hinkov:
Electronic Phase Separation in the Slightly Underdoped Iron Pnictide Superconductor Ba1-xKxFe2As2.
Physical Review Letters 102, 117006 (2009).
9.
D. S. Inosov, J. T. Park, P. Bourges, D. L. Sun, Y. Sidis, A. Schneidewind, K. Hradil, D. Haug, C. T. Lin, B. Keimer, V. Hinkov:
Normal-State Spin Dynamics and Temperature-Dependent Spin Resonance Energy in an Optimally Doped Iron Arsenide Superconductor.
Nature Physics 6, 178-181 (2010).
10.
J. T. Park, D.S. Inosov, A. Yaresko, S. Graser, D. L. Sun, Ph. Bourges, Y. Sidis, Yuan Li, J.-H. Kim, D. Haug, A. Ivanov, K. Hradil, A. Schneidewind, P. Link, E. Faulhaber, I. Glavatskyy, C. T. Lin, B. Keimer, V. Hinkov:
Symmetry of spin excitation spectra in the tetragonal paramagnetic and superconducting phases of 122-ferropnictides.
Physical Review B 82, 134503 (2010).
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