Ein Ansatz zur Syntheseplanung in der Festkörper- und Materialchemie

Forschungsbericht (importiert) 2006 - Max-Planck-Institut für Festkörperforschung

Autoren
Schön, J. Christian; Putz, Holger; Wevers, Marcus A. C.; Hannemann, Alexander; ¿an¿arevi¿, ¿eljko; Pentin, Ilya; Fischer, Dieter; Jansen, Martin
Abteilungen
Abteilung Jansen (Chemie) (Prof. Dr. Martin Jansen)
MPI für Festkörperforschung, Stuttgart
Zusammenfassung
Eine rationale Syntheseplanung in der Festkörperchemie als in sich geschlossenes Konzept wird vorgestellt. Die voraussetzungsfreie Vorhersage neuer Verbindungen gefolgt von der Analyse ihrer Eigenschaften führt zu deren zielgerichteter Synthese.

Einführung

Der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis in den Naturwissenschaften läuft in einem durchaus hierarchischen Sinne stufenartig ab. Am Anfang stehen dabei Beobachtung und Messung, deren Resultate den ständig wachsenden Fundus an faktischem Wissen bilden. In den nächsten Schritten werden die Einzelbeobachtungen systematisiert, werden Zusammenhänge aufgezeigt und diese mathematisch formalisiert. Auf der höchsten Ebene werden schließlich allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten abgeleitet, die, besonders erstrebenswert, Ursache-Wirkungs-Beziehungen erkennen lassen. Die Reife einer wissenschaftlichen Disziplin lässt sich in diesem Sinne daran messen, inwieweit neuartige Experimente kontrolliert und gezielt durchgeführt werden können, oder allgemeiner gefasst, inwieweit und mit welcher Genauigkeit Ereignisse in unserer materiellen Umgebung richtig prognostiziert werden können. Dieses ist das Entwicklungsstadium, in dem die Theorie beginnt, das Experiment herauszufordern und Thesen aufzustellen, die experimentell zu verifizieren sind, und die oben beschriebene induktive Vorgehensweise in eine deduktive umschlägt. In der Chemie hat sich der induktive Ansatz als besonders erfolgreich erwiesen. Reduziert man diese Disziplin auf eines ihrer Hauptanliegen, nämlich die Synthese neuer Verbindungen, und versucht den heute erreichten Stand zu bewerten, so kommt man zu dem Schluss, dass in den zurückliegenden zweihundert Jahren auf überwiegend experimentellem Wege Großartiges geleistet wurde: In wichtigen Teilgebieten der Synthesechemie ist man heute mit eindrucksvoller Zuverlässigkeit in der Lage, sowohl noch unbekannte Verbindungen als Syntheseziele zu formulieren als auch gangbare Syntheseschritte zu deren Realisierung voraus zu planen.

Syntheseplanung in der Festkörperchemie

Im Gegensatz zur Molekülchemie ist man bei der Präparation neuer Festkörper im Allgemeinen nicht in der Lage, zuverlässig zu planen und daher immer noch auf eine explorative Vorgehensweise angewiesen. Mit der Suche nach Abhilfe beschäftigen sich Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Festkörperforschung seit längerem und folgen seit 15 Jahren einer konkreten Konzeption. Grundlage ihres Ansatzes ist die Projektion der gesamten Welt der bekannten und der noch nicht hergestellten aber existenzfähigen chemischen Verbindungen auf eine so genannte Energielandschaft [1-4]. Vereinfachend kann das Konzept anhand des so genannten Konfigurationsraumes erläutert werden: Ein Punkt im Konfigurationsraum entspricht einer Atomkonfiguration, d.h. der Gesamtheit der Positionen aller Atome, die zusammen den Festkörper bilden. Jede Atomkonfiguration besitzt eine wohldefinierte Energie, sodass eine bildliche Darstellung der Energien aller vorstellbaren Atomkonfigurationen eine Landschaft mit Bergen und Tälern ergibt. Bei Temperaturen oberhalb von 0 K schwingen die Atome im Festkörper immer um ihre Gleichgewichtslagen, daher bleibt eine Atomkonfiguration nicht konstant, sondern schwankt geringfügig um einen Mittelwert. Diesen Mittelwert bezeichnet man als die Struktur des Festkörpers, und die Menge der thermodynamisch erlaubten Mittelwertkonfigurationen entspricht der Menge aller existenzfähigen stabilen und metastabilen Modifikationen einer Verbindung. Chemische Systeme streben beim Relaxieren in eine stabile Struktur nach Zuständen mit geringerer Energie, und insbesondere bei tiefen Temperaturen entsprechen die Atomkonfigurationen – denen Minima der potenziellen Energie zugeordnet sind – existenzfähigen Modifikationen (siehe Abb. 1(a)).

Eine solche Beschreibung der Welt chemischer Verbindungen durch den Konfigurationsraum und eine ihm zugeordnete Energielandschaft eröffnet unmittelbar zugängliche und ganz grundlegende Einsichten [5].

1) In einer eindeutigen Beziehung gehört zu jedem Minimum der Energielandschaft eine existenzfähige Verbindung und umgekehrt lässt sich jeder realisierten oder realisierbaren chemischen Verbindung ein oder mehrere Minima zuordnen, unabhängig vom Aggregatzustand, vom Vorhandensein oder Fehlen kristalliner Ordnung oder von der jeweiligen Teilchengröße (nano-, meso- oder makroskopisch).

2) Die Frage, ob eine hypothetische Verbindung „thermodynamisch stabil“ sei, erweist sich im Bezug auf ihre Realisierbarkeit als unangebracht. Die einzig notwendige Voraussetzung für die Herstellbarkeit einer Verbindung ist, dass sie einem lokalen Minimum zuzuordnen ist, also mindestens kinetisch stabil ist.

3) Die Struktur der Energielandschaft ist naturgesetzlich (durch die Summe aller interatomaren Wechselwirkungen) festgelegt. Damit sind unter gegebenen Randbedingungen globale wie lokale Minima und folglich alle stabilen wie metastabilen Verbindungen vorgeprägt.

4) Die hier beschriebene Vorgehensweise ist deduktiv und stellt damit einen Paradigmenwechsel gegenüber dem früher in der Chemie bevorzugten induktiven Ansatz dar.

Synthesechemie zu betreiben heißt in diesem Bild, die Landschaft der freien Enthalpie zu erkunden, was in der Vergangenheit überwiegend experimentell durch den präparativ arbeitenden Chemiker erfolgte. Einer solchen Vorgehensweise tritt mehr und mehr die theoretische Erkundung an die Seite. Die beiden Zugänge stehen nicht in Opposition zueinander, sie ergänzen sich vielmehr. Die Computerchemie wird zumindest auf längere Sicht billiger und schneller sein und die präparativ-explorative Arbeit nachhaltig stützen können. Die klassisch präparative Chemie bleibt allerdings unverzichtbar, da der praktische Nutzen aus einem Stoff trivialerweise nur dann gezogen werden kann, wenn dieser auch faktisch verfügbar ist. Die Anforderungen an die Synthesekunst der Chemiker werden eher noch steigen, denn die Modellierungen ergeben durchaus überraschende, ja exotische Strukturvorschläge, deren Realisierungen bei Aufbietung selbst des modernen Methodenrepertoires große Herausforderungen darstellen. Auch bleibt die experimentelle Verifizierung grundsätzlich letzte Instanz bei der Bewertung der Richtigkeit einer Prognose.

Abbildung 1(b) zeigt eine schematische Darstellung der am MPI für Festkörperforschung entwickelten Vorgehensweise zur rationalen Syntheseplanung und Strukturvorhersage. Die Minima auf der Energielandschaft eines chemischen Systems werden mithilfe globaler Erkundungsalgorithmen identifiziert und anschließend analysiert. Dies umfasst eine Verfeinerung der Struktur auf quantenmechanischer Basis, Abschätzung ihrer kinetischen Stabilität, Berechnung der freien Energie bzw. ihrer thermodynamischen Stabilität, und schließlich die Bestimmung ihrer physikalischen und chemischen Eigenschaften. Das Fernziel ist, aus den so bestimmten möglichen Verbindungen und Modifikationen diejenige auszuwählen, deren Eigenschaftsspektrum der gewünschten Anwendung optimal entspricht. Nach Vorgabe eines lohnenden Syntheseziels erfolgt die Auswahl eines geeigneten Syntheseverfahrens, wobei die vorhergesagten Eigenschaften eine wichtige Rolle spielen. Handelt es sich z.B. um eine metastabile Phase, die bei hohen Drücken thermodynamisch stabil ist, so wird man eine Hochdrucksynthese einsetzen, während eine Tieftemperaturphase, die bei erhöhter Temperatur zur Zersetzung oder Entmischung neigt, z.B. durch einen Quench aus der Schmelze oder auf dem Wege der Atomstrahlabscheidung bei tiefen Temperaturen (LT-ABD-Verfahren [6]; Low-Temperature Atomic Beam Deposition) synthetisiert werden könnte. Eine Lenkung auf einen bestimmten Strukturkandidaten würde allerdings eine vollständige Kontrolle der Schritte Keimbildung und -wachstum voraussetzen, wie sie heute noch nicht möglich ist.

Beispiele

Zur Erläuterung der Vorgehensweise seien einige Beispiele gezeigt. Abbildung 2 stellt einen vereinfachten Ausschnitt (mit sechs der wichtigsten aus Tausenden von Modifikationen) aus der Energielandschaft von Na3N dar. Nach den Berechnungen [7, 8] sind alle Modifikationen metastabil – eine Synthese ist deshalb nur bei sehr tiefen Temperaturen möglich. Daher wurde das LT-ABD-Verfahren eingesetzt, und mit der Synthese von Na3N in der ReO3-Typ-Modifikation wurde eine hundertjährige vergebliche Suche nunmehr erfolgreich abgeschlossen [9]. Man beachte, dass die gefundene Modifikation nicht diejenige mit der niedrigsten Energie ist – Existenzfähigkeit bedeutet nur, dass eine Struktur einem Minimum entspricht und somit wenigstens kinetisch stabil ist.

Als weitere Beispiele für die Erkundung der Energielandschaft seien die Berechnung der Tieftemperaturphasendiagramme für zwei ternäre Alkalihalogenide, Na1-xLixBr und Cs1-xLixCl (0≤x≤1), vorgestellt [10, 11]. Im Falle des Li/Na/Br-Systems weisen die Strukturen mit der niedrigsten Energie für alle Zusammensetzungen x eine Kochsalz-Struktur auf, wobei die Li- und Na-Atome zufällig über die Natrium-Positionen in der Kochsalz-Struktur verteilt sind. Abbildung 3(a) zeigt den auf ab initio Ebene berechneten Tieftemperaturbereich des Phasendiagramms, welches in guter qualitativer und quantitativer Übereinstimmung mit dem Experiment eine feste Lösung mit einer Mischungslücke aufweist. Im Gegensatz hierzu finden wir in dem Li/Cs/Cl-System keine energetisch günstigen Strukturfamilien. In Übereinstimmung mit dem Experiment (Abb. 3(b)) liegen in Li/Cs/Cl geordnete kristalline Phasen bei x=1/3 und x=1/2 vor. Darüber hinaus erkennt man, dass zumindest eine weitere thermodynamisch stabile Modifikation bei x=2/3 vorliegen sollte. Als synthetischen Zugang zu dieser vorhergesagten Phase könnte man z.B. einen Quench aus der Schmelze mit der Zusammensetzung x=2/3 gefolgt von einer Kristallisation bei tiefen Temperaturen wählen, oder auch wieder das LT-ABD-Verfahren einsetzen.

Originalveröffentlichungen

1.
Schön, J. C. und M. Jansen:
Auf dem Weg zur Syntheseplanung in der Festkörperchemie: Vorhersage existenzfähiger Strukturkandidaten mit Verfahren zur globalen Strukturoptimierung.
Angewandte Chemie 108, 1358-1377 (1996).
2.
Schön, J. C. und M. Jansen:
Determination, prediction, and understanding of structures, using the energy landscapes of chemical systems.
Zeitschrift für Kristallographie 216, 307-325 & 361-383 (2001).
3.
M. Jansen:
Ein Konzept zur Syntheseplanung in der Festkörperchemie.
Angewandte Chemie 114, 3896-3917 (2002).
4.
Schön, J. C. und M. Jansen:
From configuration space to thermodynamic space: Predicting new inorganic solids via global exploration of their energy landscapes.
Materials Research Society Symposium Proceedings 848, 333-344 (2005).
5.
Jansen, M. und J. C. Schön:
Design in der Chemie – eine Fiktion?
Angewandte Chemie 118, 3484-3490 (2006).
6.
Fischer, D. und M. Jansen:
Low activation solid state syntheses by reducing transport lengths to atomic scales as demonstrated by case studies on AgNO3 and AgO.
Journal of the American Chemical Society 124, 3488-3489 (2002).
7.
Schön, J. C. und M. Jansen:
Strukturkandidaten für Alkalimetallnitride.
Zeitschrift für anorganische und allgemeine Chemie 624, 533-540 (1998).
8.
Schön, J. C., M. A. C. Wevers und M. Jansen:
Prediction of high pressure phases in the systems Li3N, Na3N, (Li,Na)3N, Li2S and Na2S.
Journal of Materials Chemistry 11, 69-77 (2001).
9.
Fischer, D. und M. Jansen:
Synthese und Struktur von Na3N.
Angewandte Chemie 114, 1831-1833 (2002).
10.
Schön, J. C., I. Pentin und M. Jansen:
Ab initio computation of low-temperature phase diagrams exhibiting miscibility gaps.
Physical Chemistry Chemical Physics 8, 1778-1784 (2006).
11.
Schön, J. C., A. Hannemann, Z. Čančarević, I. Pentin, M. Jansen und G. Effenberg:
Ein Ansatz zur rechnergestützten Vervollständigung und Validierung von Phasendiagrammen.
Tagungsband der II. Wing-Konferenz, Aachen, November 2005.
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