Quantenflüssigkeit mit gekoppelten Spin- und Bahnmomenten

K. Kitagawa, T. Takayama, Y. Matsumoto, A. Kato, R. Takano, Y. Kishimoto, S. Bette, R. Dinnebier,
G. Jackeli, H. Takagi


Einem Team von Forschern des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung, der Universität Stuttgart und der Universität Tokio gelang der experimentelle Nachweis eines ungewöhnlichen Quantenzustands der Materie. In der Verbindung H3LiIr2O6, in der Iridium-Atome „bienenwaben“-artig im Kristallgitter angeordnet sind, wird selbst bei tiefsten Temperaturen keine Fernordnung der magnetischen Momente der Iridium-Atome beobachtet. Dies ist umso erstaunlicher, als von starken Paarwechselwirkungen ausgegangen werden kann. Die Elektronen der Iridium-Atome bilden unter Einbeziehung ihrer Spin- und Bahn-Momente einen verschränkten Quantenzustand, der, in Analogie zu flüssigem Helium, als Quantenspinflüssigkeit (Quantum Spin Liquid = QSL) bezeichnet wird.


Die Eigenschaften von Permanentmagneten mit ihrem dauerhaften Magnetfeld beruhen auf einer Fernordnung der lokalen magnetischen Momente der einzelnen Atome die im Wesentlichen von den Spins der Elektronen herrühren. In ferromagnetischen Materialien sind die Momente parallel und gleichgerichtet angeordnet. Mit steigender Temperatur wird ein Übergang zu einem ungeordneten, paramagnetischen Zustand beobachtet. Die damit verbundene Entropieänderung führt zu Singularitäten in der Temperaturabhängigkeit verschiedener physikalischer Größen wie der spezifischen Wärme und der magnetischen Suszeptibilität. Der Phasenübergang kann somit experimentell bestimmt werden. Neben der ferromagnetischen Fernordnung gibt es weitere, teilweise sehr komplexe Ordnungsmuster, die u. a. mit Neutronen-Beugungsexperimenten oder mit Kernspinresonanz-Methoden aufgeklärt werden können.

Es stellt sich die Frage: Gibt es einen kollektiven Quantenzustand der Elektronenspins, der bis zum absoluten Nullpunkt der Temperatur kein Ordnungsmuster und damit auch keine Symmetrieerniedrigung zeigt? Ein solcher Zustand wäre analog zu flüssigem Helium, welches aufgrund von Quanteneffekten unter Normaldruck nicht fest wird. Ihn zu finden ist ein lange gehegter Traum der Festkörperphysiker. In einer solchen Quantenspinflüssigkeit (Quantum Spin Liquid = QSL) verhindern Quanteneffekte eine Fernordnung der Spins und führen zu einem korrelierten, makroskopisch nichtentarteten Grundzustand.

In einer Quantenspinflüssigkeit sind mit Erniedrigung der Temperatur keine Singularitäten bei den thermodynamischen Messgrößen zu beobachten, da die quantenmechanische Verschränkung der Elektronenspins zu einer stetigen Erniedrigung der magnetischen Entropie führt. Wie kann man aber bei einem solchen Verhalten eine Quantenspinflüssigkeit nachweisen? Mit konventionellen Methoden zur Messung des Magnetismus ist kein Unterschied zu paramagnetischen Substanzen mit unkorrelierten, durch thermische Anregung ungeordneten Elektronenspins zu erkennen. Auch in Streuexperimenten sind wegen des sehr ungewöhnlichen Anregungsspektrums der fraktionalisierten Quasiteilchen nur sehr schwache, „verschmierte“ Signale zu erkennen. Die charakteristischen Eigenschaften der Quantenspinflüssigkeiten sind uns verborgen, gleichsam wie das „Nichts“ in der Lehre des Zen.

Unter den theoretischen Modellen für Quantenspinflüssigkeiten hat eines besondere Beachtung gefunden. Es wurde von Alexei Kitaev entwickelt und beschreibt ein System von magnetischen Momenten mit Spin 1/2, die in einem „Bienenwaben“-Gitter angeordnet sind. Dabei erzeugen die nach Ising beschreibbaren Wechselwirkungen zu jeweils drei nächsten Nachbarn (drei Bindungen mit 120°-Winkeln) einen frustrierten Zustand, da die anisotropen Paarwechselwirkungen untereinander konkurrieren. Daraus folgen Quantenfluktuationen, die die Existenz einer Quantenspinflüssigkeit als Grundzustand zur Folge haben. Im Rahmen des Kitaev-Modells können fraktionalisierte Anregungen mit Majorana-Fermionen in Zusammenhang gebracht werden, und zwar in zwei Varianten, als Quasiteilchen mit Dirac-Dispersion und als unbewegliches Teilchen. Das Interesse an Kitaevs „Spielzeugmodell“ hat stark zugenommen, da angenommen werden kann, dass in Verbindungen mit schweren Übergangselementen, bei denen Spin- und Bahnmomente stark gekoppelt sind, eine Quantenspinflüssigkeit wie von Kitaev beschrieben gefunden werden kann.

Lange Zeit war die Suche nach einer Kitaev-Quantenspinflüssigkeit erfolglos, da die bis dahin untersuchten Verbindungen, einschließlich der Iridate und Ruthenate mit ‚Bienenwaben‘-Struktur, wie Li2IrO3, bei tiefsten Temperaturen doch eine magnetische Fernordnung aufweisen. Das ‚Nichts‘ schien nicht zu existieren. Dennoch ließen die experimentellen Befunde eine gewisse Nähe zur Kitaev-Quantenspinflüssigkeit erkennen und ermutigten zu weiteren Untersuchungen.

Einem internationalen Forschungsteam bestehend aus Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Festkörperforschung (Tomohiro Takayama, Yosuke Matsumoto, Sebastian Bette, Robert Dinnebier), der Universität Stuttgart (George Jackeli) und der Universität Tokyo (Kentaro Kitagawa) ist jetzt unter Leitung von Hidenori Takagi ein bahnbrechender Fortschritt gelungen. In der Ausgangsverbindung Li2IrO3 ersetzten sie unter sehr milden Reaktionsbedingungen (soft chemistry) die Li+-Ionen auf den Gitterplätzen zwischen den Iridiumoxid-Schichten durch H+-Ionen (Protonen). Die „Bienenwaben”-Schichten bleiben bei dieser Reaktion erhalten. Bei der neuen Verbindung, H3LiIr2O6, konnte weder durch Messung der magnetischen Suszeptibilität und der spezifischen Wärme noch in Kernspinresonanz-Experimenten irgendeine magnetische Fernordnung festgestellt werden. Die sehr komplexe spiralförmige Ordnung in der Ausgangsverbindung Li2IrO3 war in H3LiIr2O6 dem „Nichts” gewichen. Spin- und Bahnmomente der Iridium-Elektronen sind gleichermaßen beteiligt dieses „Nichts” zu erzeugen, mit Eigenschaften die denen einer Kitaev-Quantenspinflüssigkeit sehr ähnlich sind.

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